"Mehr Hessen wagen"

Jan-Marco Luczak und Boris Palmer in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2013, S. 10

"Die große Koalition, die von manchen als geradezu zwangsläufige Folge des Wahlergebnisses betrachtet wird, ist in Wahrheit eine vertane Chance. Schwarz-Grün hätte für die Republik das größere Innovationspotential. Beide Parteien konnten es nicht nutzen, weil diese Koalition bisher nicht vorgedacht und vorbereitet war.

Vergangen ist die Zeit, in der Grüne und Union als Antagonisten im politischen System handelten und entsprechend wahrgenommen wurden. Beide Parteien haben sich in den vergangenen Jahren angenähert und sich von fundamentalen Positionen verabschiedet. Von den ideologischen Debatten der Gründerzeit sind die Grünen heute meilenweit entfernt, an die Stelle von Wirtschaftsfeindlichkeit ist ein modernes Wachstumskonzept getreten, aus der Antiparteienpartei ist eine Reformpartei geworden. Dass die Grünen regieren können, bestreitet heute niemand mehr ernsthaft. CDU/CSU sind heute inhaltlich und kulturell weitaus aufgeklärter: Berufstätige Mütter, Aussetzung der Wehrpflicht, Ende der Kernenergie, Anerkennung und Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften – was ehedem für die Union tabu war, ist heute Teil bürgerlicher Programmatik. Diese Entwicklungen haben sich auch in den Sondierungsgesprächen zwischen Union und Grünen widergespiegelt, die von gegenseitigem Respekt und wachsendem Vertrauen getragen wurden.

Es ist das Denken in Werten, nicht in Strukturen, das unsere Parteien gemeinsam haben. Übereinstimmungen finden sich bei Subsidiarität und der zentralen Bedeutung des Individuums in einem solidarischen Gemeinwesen. Prägend ist das uns gemeinsame Prinzip der Nachhaltigkeit. Das Bewusstsein für die Verantwortung gegenüber kommenden Generationen ist die uns verbindende Klammer. Folgt dies bei der Union aus dem christlichen Glauben und dem daraus abgeleiteten Gebot der Bewahrung der Schöpfung, steht bei den Grünen der Gedanke der Ökologie im Vordergrund.

Nachhaltigkeit ist nicht auf die ökologische Dimension beschränkt; sie ist auch bestimmend für ökonomische und gesellschaftliche Fragen. Vermeintliche Gegensätze zwischen Union und Grünen entpuppen sich so häufig als Vorder- und Rückseite einer Medaille: Der Weg von individueller Selbstbestimmung (Union) zu mehr Bürgerbeteiligung (Grüne) ist nicht weit. Ebenso anerkennen beide, dass Freiheit Voraussetzung für wirtschaftliche Dynamik und damit Grundlage für sozialen Ausgleich ist – und umgekehrt.

Unter dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit wäre manche Entscheidung in einem schwarz-grünen Koalitionsvertrag sicher anders ausgefallen. Ein Beispiel ist die abschlagsfreie Rente mit 63. Sie ist ein falsches Signal. Die Einführung der Rente mit 67 war keine einfache Entscheidung. Aber sie war angesichts der demographischen Entwicklung in Verantwortung vor den kommenden Generationen richtig. Auch die Mütterrente wäre, würde sie aus Beitragsmitteln finanziert, problematisch. Erforderlich wäre es hingegen, über eine Koppelung des Renteneintrittsalters und der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung nachzudenken.

Ein weiteres Beispiel ist die Energiepolitik. Der ökologische Umbau der Wirtschaft ist ein Thema, bei dem Union und Grüne ihre Konzepte und Kompetenzen zu einem größeren Ganzen mit mehr gesellschaftlicher Überzeugungskraft hätten vereinen können. Statt Rücksichtnahme auf spezifische Interessen der SPD hätte Schwarz-Grün die Energiewende wesentlich ehrgeiziger vorangetrieben – das gilt auch für den weiteren Windkraftausbau. Ein strategischer Umbau der gesamten Energieversorgung und nicht ein Festhalten an ökologisch überholten Strukturen stünde heute auf der Agenda.

Wir sagen daher: Die große Koalition darf nur ein Bündnis auf Zeit sein. Die SPD öffnet sich schon heute für eine Koalition mit der Linken. Wir setzen das gegenteilige Signal: Schwarz-Grün muss Teil unverkrampfter Normalität werden.

Differenzen bleiben. Sie sind anzuerkennen und zu respektieren. Koalitionen erfordern keine Selbstaufgabe der Partner. Bereits heute funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Union und Grünen in Städten und Kommunen gut. Wir sehen daher gespannt nach Hessen, auf das Stammland der grünen Bewegung, wo die CDU als besonders konservativ gilt. Gerade dort steht nun die erste schwarz-grüne Koalition in einem Flächenland bevor.

Es ist gut, dass Union und Grüne sich ihre gemeinsamen programmatischen Wurzeln vergegenwärtigen und sich öffnen. Dieser Weg wird kein leichter sein. Verantwortung zu übernehmen erfordert Mut. Diesen Mut vorausgesetzt, kann Hessen überall sein. Die Zeit natürlicher Koalitionspartner ist vorbei."